Was haben wir nur falsch gemacht?

Das Thema „Eltern von Straßenkindern“ hat mich bei der Recherche und den Dreharbeiten stark in den Bann gezogen. Ich habe selbst einen 17-jährigen Sohn und kann die Verzweiflung, die Wut und Hilflosigkeit der Eltern gut nachvollziehen. Während der Dreharbeiten wurde mir jedoch die Tragweite der Situation, in der sich die Eltern befinden, immer klarer. Die Arbeit, die sie in ein Leben investiert haben, in dem es ihnen an nichts fehlt, und vor allem auch den Kindern nicht. Haus mit Garten, gut angesehene Berufe mit allem, was dazu gehört. Klingt fast nach einem perfekten Leben.

Besonders die Richterin Janne und der Chefarzt Ingo scheinen nach außen hin ein absolut perfektes Leben zu führen. Man kann sich vorstellen, dass es lange Zeit auch so gewesen ist. Bestimmt haben die ein oder anderen Bekannten, Freunde oder Nachbarn einen neidischen Blick auf die Familie geworfen. Gutaussehende, erfolgreiche Eltern, intelligente Kinder –  eine Familie wie aus dem Katalog. Wäre da nicht die jüngste Tochter, die plötzlich anfängt aus der Reihe zu tanzen, indem sie sich nicht mehr an Absprachen hält, zuerst abends später als verabredet nach Hause kommt und irgendwann sogar tagelang wegbleibt. Die Situation verschlimmert sich immer weiter und plötzlich besteht der Alltag der Familie nur noch aus Angst und Sorge um ihr Kind. Da geht man durch die Hölle, das spürte ich ganz deutlich in den Gesprächen vor und während der Dreharbeiten.

Die Eltern, die ihr Leben sonst so erfolgreich gemeistert haben, sehen sich plötzlich mit einer Situation konfrontiert, der sie ohnmächtig gegenüberstehen. Lösungen sind kaum in Sicht. Was für ein Gefühl muss das sein, wenn sich das eigene Kind mit Drogen selbst zugrunde richtet und man selbst nichts tun kann?

Meine eigene Wut auf diese Kinder wurde zu meinem eigenen Erstaunen immer größer. Ich empfand ihr Verhalten fast als egoistisch. Wie können sie nicht verstehen, was sie ihren Eltern mit antun? Durch was für eine Hölle sie ihre Eltern laufen lassen? Das ist natürlich meine heutige Perspektive als Mutter, aus der ich die Dinge betrachte.

Ich erinnerte mich an eine Situation aus meinem eigenen Leben, als ich noch Jugendliche war. Damals hatte ich einen Freund, der Drogen konsumierte und seinen reichen Eltern das Leben schwer machte. Unsere Clique und ich waren damals immer auf seiner Seite. Nicht nur das, wir dachten sogar, dass die Eltern die Wutausbrüche unseres Freundes verdienten. Aus heutiger Sicht tut mir das unendlich leid. Mein Freund hat sich damals im Drogenrausch das Leben genommen; sein Vater erlitt in der Folge dieses schrecklichen Ereignisses einen Herzinfarkt  und starb kurz danach.

Was haben wir nur falsch gemacht? Diese Frage tauchte bei meiner Recherche und dem Dreh immer wieder auf. Nicht nur bei den betroffenen Eltern, auch bei Außenstehenden. Denn irgendetwas muss ja schiefgelaufen sein. Dass die Antwort auf diese Frage kompliziert und schwer zu beantworten ist, lernte ich während der Gespräche mit den Eltern. Manchmal gibt es auch einfach keine schlüssige Antwort darauf. Dann ist es einfacher, die Situation zu nehmen, wie sie ist und von dort aus nach Lösungen zu suchen.

Der Begriff „Straßenkind“ wird zwar von einigen Anlaufstellen noch als Begriff benutzt, ist aber nicht unumstritten. Keinesfalls kann der Begriff gleichgesetzt werden mit den Straßenkindern in Entwicklungsländern. Er meint in Deutschland junge Erwachsene, die obdachlos oder ohne festen Wohnsitz sind.

Des Weiteren unterscheidet man noch schwer erreichbare Jugendliche: Sie werden von den Sozialsystemen nicht (mehr) erreicht; halten sich meistens von festem Wohnsitz und Institutionen/Hilfeeinrichtungen fern.

Das Deutsche Jugend Institut (DJI) definiert heute diese Gruppe als „Straßenjugendliche“. Sie sind
- wohnungs- oder auch obdachlos,
- kein fester Wohnsitz oder halten sich vom gemeldeten Wohnsitz fern,
- können aber müssen nicht auf der Straße leben.

Wenn junge Erwachsene nicht mehr nach Hause kommen, hat das nicht nur Auswirkungen auf die Jugendlichen selbst, sondern auch auf die Eltern. Unser Film „Was haben wir nur falsch gemacht?“, zeigt, was es mit Eltern macht, wenn ihre Kinder auf der Straße leben.